TV-Kuss

Kennt Ihr noch das „Fernsehen“? Das ist einmal die Bezeichnung für ein elektronisches Gerät, ein Kunststoffkasten mit eingebautem Bildschirm, auf dem Millionen von mikroskopisch kleinen Farbpunkten leuchten und die Illusion eines Bildes erzeugen, mehrerer Bilder, gar: sich bewegender Bilder! Und nicht nur Bilder, auch Töne: Geräusche, Stimmen, Musik. Eine sogenannte „Sendung“ wird übertragen, manchmal sogar im gleichen Moment, an einem anderen Ort der Welt, und du hast das Gefühl, du selbst bist dabei, auch wenn du gar nicht dabei sein kannst. Zum Beispiel bei der Trauerfeier für Queen Elisabeth II am vergangenen Montag.
„Fernsehen“ bezeichnet aber auch den Vorgang, wenn man diese Sendungen verfolgt und nicht zuletzt ist „Fernsehen“ das Programm selber, das von sogenannten „Fernsehsendern“ für die „Fernsehzuschauer“ produziert wird. Das Besondere am Fernsehen war immer, dass eine bestimmte Sendung an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit gesendet wurde. Man schaltete den Fernseher ein, entweder, weil man dank der „Fernsehzeitschrift“ davon erfahren hatte, dass nun eine Sendung gesendet wurde, die einen interessierte, oder man überließ es dem Zufall, was geschah. Wenn man also Glück hatte, lief zu der Zeit, die man sich für das Fernsehen reserviert hatte, eine Sendung, die einem gefiel. Das kam dem wirklichen Leben relativ nah, denn auch hier kann man nur hoffen, dass zu einer Zeit, die einem passt, die Sachen passieren, die man sich wünscht. Ich habe ja dank der Gnade der frühen Geburt noch die Zeiten mit drei Fernsehsendern und einem Sendeschluss erlebt, was einen Menschen prägt. Wenn das Glück also auf meiner Seite ist, und ganz unverhofft eine Sendung läuft, die mich interessiert, dann bin ich auch heute noch richtig aufgeregt.
Als ich so 13, 14 Jahre alt war, habe ich zusammen mit meinen Eltern eine Musiksendung mit Frank Zander als Moderator gesehen (sie hieß „Vorsicht Musik“, danke Internet!). Und tatsächlich trat in einer Folge meine damalige Lieblingsband Kiss auf. Nie wieder in meinem Leben habe ich das Fantum für eine Band so sehr nach außen gezeigt. Ich trug eine richtige Rocker-Kutte mit lauter Kiss-Aufnähern, zum Teil sogar mit dem verbotenen Runen-„SS“ aus Amerika. An Karneval schminkte ich mich als Paul Stanley. Mein Kinderzimmer war komplett mit Kiss-Postern tapeziert, die ich alle zusammen einem üblen Burschen aus der Nachbarschaft für ziemlich viel Geld abgekauft hatte. Kiss waren wild, sie waren sexy, es waren echte Rocker. Das Kiss einmal im biederen Wohnzimmer meiner Eltern zu sehen sein würden, hätte ich nie für möglich gehalten. Ihr Auftritt in der Sendung war für mich ein Großereignis, als wäre ich selbst dabei, er war aber auch sehr schnell wieder vorbei, und weiter ging’s in der Show, mit zum Teil durchaus abseitiger Musik, was im heutigen Fernsehen quasi gar nicht mehr vorkommt.
Vor ein paar Tagen hatte ich wieder einen Kiss-Moment. Ich schaltete auf arte und dort redete Gene Simmons, dessen ungeschminktes Gesicht ich ein bisschen aus seiner Reality Soap im amerikanischen Fernsehen kannte. Als nächster erzählte Paul Stanley, das konnte man an der Bauchbinde ablesen (wie man die Einblendung des Namens am unteren Bildschirmrand in der Fachsprache nennt). Und schon war ich absorbiert von der Dokumentation über Kiss, die sich über zwei Folgen erstreckt. Seit 50 Jahren existiert diese Gruppe nun ununterbrochen. Mir war gar nicht klar, wie wild die Band wirklich war, wie verrückt und besonders in den ohnehin schon verrückten und besonderen 70er Jahren. Sehr interessant, wie sich die beiden Musiker Chaim Witz (der Name ist kein Witz!) und Stanley Eisen, beide jüdischer Herkunft, in der relativ brutalen Musikszene New Yorks behaupteten. Sie machten sich selbst zur Marke, gaben sich nicht nur neue Namen, entwickelten ihre Alter Egos inklusive der phantasievollen Kostüme und der unverkennbaren Make-ups, sie verkörperten selbst auf der Bühne das, was sie zuvor erfunden hatten. Das fand ich sehr faszinierend. Sie hatten zunehmend Erfolg, richtig großen, lang anhaltenden Erfolg. Ich glaube, das hatte zwar auch mit ihrer Musik zu tun, war aber sicherlich vor allem diesem brillanten Marketing zu verdanken und der Bereitschaft der Musiker, ihrer Marke treu zu bleiben. Sie selbst sagen, dass auch ihre Abneigung gegen Alkohol und Drogen dabei halfen. Und natürlich Frank Zander und seine Sendung „Vorsicht Musik“. (Das habe ich mir ausgedacht, um den Bogen am Ende wieder zu schließen.)