Otl Aicher 100 (Teil 1)

Waldi, das Maskottchen der Olympischen Spiele 1972, wird in diesem Jahr 50, sein Schöpfer* Otl Aicher wäre 100 Jahre alt geworden.

* gemeinsam mit Elena Winschermann

Ein wichtiger Botschafter

Als ich drei Jahre alt war, zog bei uns ein neues Haustier ein. Ein echter Hund wäre mir lieber gewesen, doch ich bekam – wie wahrscheinlich jedes Kind im olympischen Jahr 1972 – einen Stoff-Waldi. Waldi war das erste Maskottchen der Olympischen Spiele überhaupt und viele Experten sind sich einig, dass er bis heute die Benchmark der olympischen Maskottchen darstellt. Viel von dem, was danach kam, wirkte so, als wäre der Entwurf eines Maskottchens eine lästige Pflicht, die auch irgendwie erledigt werden musste – neben der Errichtung neuer Sportstätten (für die teilweise Millionen Jahre alte Berge gesprengt wurden), einer komplett neuen Infrastruktur mit neuen Autobahnen, Hochgeschwindigkeitszügen usw. Dabei, das ist zumindest jedem Gestalter völlig klar, ist ein Olympisches Maskottchen so was wie die kreative Visitenkarte eines Landes. Eine Art oberster Botschafter, der eigentlich unmittelbar dem Außenministerium unterstellt sein müsste. Nichts wird schneller wahrgenommen, nichts kann schneller Emotionen hervorrufen (von Zuneigung bis Spott oder Fremd-Scham). Ich würde fast soweit gehen zu sagen, dass einem Olympia-Maskottchen die höchste Priorität des Gastgeber-Landes zuteil werden sollte. In Spanien hatte man das in der Vorbereitung auf das Jahr 1992 erkannt.

Und noch ein Hund

1992 sollte ein bedeutsames Jahr für Spanien werden. Der 500. Jahrestag der sogenannten „Reconquista“, der Rückeroberung Spaniens von den Mauren, die „Entdeckung“ Amerikas – es gab viel zu feiern. So wurde Sevilla im Süden Kulturhauptstadt Europas, Barcelona im Nordosten die Stadt der olympischen Spiele. Barcelona hatte sich schon nach dem Ende des Franco-Regimes in eine unglaublich pulsierende Stadt verwandelt. Man durfte endlich wieder ungestraft Katalanisch sprechen (und unterrichten), einfach Katalane und nicht mehr nur Spanier sein, war nicht länger von Madrid abhängig. Überall entstand Neues, in einer Stadt, die traditionell dem Neuen aufgeschlossen war. Und wo viel Neues und Schönes entsteht, da braucht man Designer. Einer von ihnen war Javier Mariscal, der durch sein Comic „Sidecar“ bekannt geworden war (ich muss an dieser Stelle gestehen, dass das mehr oder weniger auf Halbwissen basiert. Wer es genauer wissen will, möge bitte gründlich recherchieren!). Das Maskottchen der Olympischen Spiele 1992, Cobi, entsprach dem Stil dieser Comics. Ich mochte diesen frechen asymmetrischen Strich, der wohl an den Kubismus angelehnt war. Für mich verkörperte er Verspieltheit, Selbstbewusstsein, Lebensfreude. Als ich 1993 zum ersten Mal in Barcelona war, entdeckte ich all das, was ich zuvor im Maskottchen Cobi gesehen hatte, in der Stadt selbst. Ein Beweis meiner These …

Form follows Charakter

Vielleicht ging es den Besuchern in München 1972 ähnlich wie mir in Barcelona. Waldi und das Corporate Design der Spiele, das Aicher mit seinem Studio entwickelt hatte, verkörperten natürlich ganz andere Eigenschaften. Alles war extrem gut durchdacht, hatte eine hohe Präzision, war stimmig von vorne bis hinten. Das System, auf dem die berühmten Pictogramme basieren, ist für mich gleichbedeutend mit hoher Ingenieurskunst. Wer so ein perfektes System erschaffen kann, der baut auch zuverlässige, robuste Autos und andere Maschinen. Präzision, Zuverlässigkeit, sachliche Intelligenz: Sind das nicht Eigenschaften, mit denen sich viele Deutschen heute gar nicht mehr identifizieren wollen? Am liebsten wären wir doch genau so locker wie „die Südländer“, schließlich trinken wir Montepulciano, verwenden natives Olivenöl und verbringen unsere Urlaube auf Mallorca.

Ein Flitzer als Aushängeschild?

Immer dann, wenn man gar nicht weiß, wer man eigentlich ist oder nicht zu seinen inneren Werten und Eigenschaften steht, dann ist auch die Außenwirkung irgendwie seltsam. So eine Person kommt einem vor, als würde sie etwas verbergen, irgendwas ist nicht stimmig … Ich glaube, so was in der Art ist dann passiert, als 2006 das Maskottchen „Goleo“ auf der Bildfläche erschien, der die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland repräsentieren sollte. Waldi war ein typischer bayrischer Dackel, Cobi ein katalanischer Schäferhund. Welche Überlegungen steckten um alles in der Welt hinter einem Löwen, der obenrum ein Fußballtrikot trug, an den Füßen Fußballschuhe, also definitiv bekleidet war, aber seine Scham-Zone nicht bedeckte? War Goleo in Wirklichkeit ein Flitzer? Sollte das die neue Lockerheit Deutschlands zum Ausdruck bringen? Eine Reminiszenz an die FKK-Szene der ehemaligen DDR? Zum Glück war die WM von Euphorie geprägt, irgendjemand (die BILD? Die frischgebackene Bundeskanzlerin Angela Merkel?) nannte die Sportveranstaltung und das ganze Drumherum leicht übertrieben ein „Sommermärchen“.

Das Sommermärchen ist lange her, und noch weiter muss ich in der Zeit zurückreisen, wenn ich mich an Waldi erinnern will. Und trotzdem weiß ich noch genau, wie mein Waldi sich anfühlte und auch seinen Geruch meine ich noch in der Nase zu haben, wenn ich mich darauf konzentriere. Dabei war er in erster Linie ein visuelles Erlebnis. Waldi war ein Pionier, ebenso wie sein Schöpfer. Immer wieder, in den unterschiedlichsten Lebensphasen und -bereichen, bin ich Otl Aicher und seinen Werken begegnet. Ein Meilenstein war für mich das Buch „Die Küche zum Kochen“, aber dazu ein anderes Mal mehr. Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum 100. Geburtstag, lieber Otl Aicher!